Möbel

JF Chen holt die Hocker aus der Ecke und ins Rampenlicht

Foto von Möbelhändler Joel Chen und seiner Tochter Bianca Chen
Der Möbelhändler Joel Chen und seine Tochter Bianca Chen zeigen in ihrer Galerie in Los Angeles bis zum 18. Juni die Ausstellung „Stools“ (Foto: Brian Guido). Oben: Sie sind im Besitz von Hunderten der namensgebenden Sitzgelegenheiten, darunter Objekte von Poul Kjærholm und T.H. Robsjohn-Gibbings (Foto: Erik Benjamins).

„Stühle sind meiner Meinung nach völlig überbewertet“, verkündet der angesehene Möbelhändler Joel Chen aus Los Angeles. „Hocker sind genauso wichtig.“ 

Das erklärt er so: „Wenn alle Stühle besetzt sind, kann man immer noch einen Hocker dazustellen“, sagt er und stellt sich dabei eine Feier in einem mit Möbeln vollgestellten Wohnzimmer vor. „Ein Hocker ist eine verkannte Notwendigkeit.“ 

Außerdem „gibt es Hocker schon wesentlich länger als Stühle“, fährt er fort und scheint dabei laut zu denken. „Als sich ein Urzeitmensch erstmals auf einem Felsen niederließ, war das ein Hocker.“ Stühle, die per Definition über eine Rückenlehne verfügen, seien erst später entstanden, sagt er und ergänzt unnötigerweise: „Aber das kann ich nicht beweisen.“

Chen beschäftigt sich viel mit Hockern. Er nennt Hunderte von ihnen sein Eigen, und erst kürzlich bat er die jungen Kurator*innen Benjamin Critton und Heidi Korsavong aus Los Angeles, zusammen mit seiner Tochter Bianca Chen, für eine Ausstellung mit dem schlichten Titel „Stools“ („Hocker“) daraus eine Auswahl zu treffen. 

„Es hat Spaß gemacht und war wie eine Schnitzeljagd“, beschreibt Critton seine Streifzüge mit Korsavong durch die randvollen Lagerräume von Chens Galerie „JF Chen“.

Die Ausstellung wurde am 5. Mai an zwei verschiedenen Orten eröffnet: in der Galerie „Marta“ von Critton und Korsavong in Echo Park und im „C-Project“ der Chens, einem ihrer drei Ausstellungsräume in der Highland Avenue – nicht weit von dem Ort entfernt, an dem Joel Chen 1974 sein Geschäft eröffnete. Sie geht noch bis zum 18. Juni. 

Zur Ausstellung gibt es auch ein gleichnamiges Buch. Wie bei der Ausstellung sind die Hocker geschickt nach der Anzahl der Punkte unterteilt, an denen sie den Boden berühren. (Da etwa ein Viertel der Hocker von anonymen Designer*innen stammt, „konnten wir sie nicht alphabetisch ordnen“, erklärt Critton.) 

Zu den Hockern, die nur einen einzigen Kontaktpunkt haben, gehören Pierre Paulins Pouf in Pilzoptik, Isamu Noguchis berühmter Schaukelhocker sowie ein Objekt der Brüder Achille und Pier Giacomo Castiglioni, das im Wesentlichen ein Fahrradsattel auf einer Stange ist. Ein farbenfrohes Totem, das aussieht, als könnte es von der Memphis Group stammen, ist das Werk von Michael Norris Graham, der ab den 1980er-Jahren im kalifornischen Laguna Beach lebte und arbeitete und ein Star unter den Holzkünstler*innen war, bevor er sich der Metallbearbeitung zuwandte.

Mindestens eine Ikone in der Kategorie der zweibeinigen Möbelstücke, Sori Yanagis filigraner „Butterfly“-Hocker, ist neben den bekannten Objekten von Marcel Breuer und Harry Bertoia vertreten. Roger Tallon, ein französischer Künstler, der mit einer Vielzahl von Medien arbeitet, ist mit zwei Zweibein-Hockern vertreten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: der eine ist eine geschwungene Aluminium-Konstruktion, der andere ein Klappmodell aus Holz.

Hocker mit drei und vier Beinen gibt es reichlich, aber letztere wirken geradezu bourgeois – ein Eindruck, den auch diese Objekte nicht widerlegen können: Mies van der Rohes scherenbeiniger „Barcelona“-Hocker aus dem Jahr 1929, der regelrecht königlich anmutet, sowie ein Holz- und Lederhocker in derselben Grundform von T.H. Robsjohn-Gibbings. Der nicht näher bezeichnete Hocker mit geschwungenem Sitz, der 1930 von der Crocker Chair Company in Wisconsin hergestellt wurde, verfügt ebenfalls über vier Beine und „sieht aus wie aus dem Skandinavien der frühen Fünfzigerjahre“, beschreibt Critton. 

Zur kleinen Gruppe der Fünf-Punkt-Hocker gehört der aus Kunststoff geformte „Umbrella“-Klappstuhl des erfindungsreichen Designers Gaetano Pesce, der 1939 in Italien geboren wurde und heute – im Alter von 82 Jahren – mit einem Studio in Brooklyn wahrscheinlich so erfolgreich ist wie nie zuvor in seinem Leben. Unter den Sechsbeinern befindet sich ein Holz- und Polsterhocker (wenn man ein Auge zudrückt – er hat eine Armlehne und eine winzige Rückenlehne) eines unbekannten Herstellers, der je nach Perspektive an die Arbeiten von Frank Lloyd Wright, Rudolph Schindler und Richard Neutra erinnert.

Chens Auge für Möbel geht einher mit einem Sinn für Talent. Er holte Critton und Korsavong mit ins Boot, „weil sie sachkundig, gewissenhaft und innovativ sind“, erklärt er. „Ihr Geschmack ist erstklassig, wie die bisherigen Ausstellungen in ihrer eigenen Galerie beweisen.“ 

Das Team beauftragte den Design-Autor Dung Ngo damit, den Ausstellungskatalog zu verfassen. Begleitet werden seine Worte von einem spektakulären fotografischen Essay, in dem Brian Guido einige der besten Hocker der Ausstellung inmitten des Chaos von Chens Lagerräumen platziert. 

Vittorio Livis gläserner, geschwungener Hocker „Onda Incisa“ aus dem Jahr 1973 neben Harry Bertoias blauem Polsterhocker „Bird“.
Vittorio Livis gläserner, geschwungener Hocker „Onda Incisa“ aus dem Jahr 1973 neben Harry Bertoias blauem Polsterhocker „Bird“ aus dem Jahr 1952. Foto: Erik Benjamins.

Im Katalogtext führt Ngo aus, dass nach der Erfindung des Stuhles „Hocker und Stühle getrennte Entwicklungspfade beschritten: Stühle entwickelten sich zu Sitzbänken, Sofas, Liegesesseln und anderen Möbelstücken mit Armlehnen, während aus Hockern Polsterhocker, Poufs, Tuffets und Klavierbänke wurden.“ Er fügt mit einem Augenzwinkern hinzu, dass „die Taxonomie von Tagesbetten und Sitzsäcken noch immer umstritten ist“. 

In einem weiteren Abschnitt zum Thema Hocker merkt Ngo an, dass bei den Aschanti in Ghana „jeder Hocker als Sitz der Seele eines Menschen angesehen wird und der Hocker sogar auf der Flagge des Aschanti-Volkes abgebildet ist“. Darf es noch ein wenig ausführlicher sein? „Wenn Sie eine faszinierende Geschichte des Kolonialismus und der Aschanti-Hocker lesen möchten“, rät Ngo, „googeln Sie mal ‚Krieg des Goldenen Hockers‘.“

Sie werden erfahren, dass der Goldene Hocker die Autorität des Herrscherhauses der Aschanti repräsentiert, die Seele der Nation birgt und die Zusammengehörigkeit des Königreichs symbolisiert. In der Ausstellung ist ebenfalls ein Aschanti-Hocker zu sehen: Er ist zwar nicht golden, aber seine sanft geschwungene Sitzfläche und der Sockel in Form eines gestreckten Löwen sind durchaus beeindruckend. 

Bislang wurde Hockern nur wenig Beachtung geschenkt – welche anderen Objekte definieren sich schon über das, was ihnen fehlt? Doch mit dieser Ausstellung rücken Joel Chen und Co. sie nun endlich ins rechte Licht.

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