12. Juni 2022Während eines Projekts für eine Stadtvilla im Londoner Stadtteil Kensington Mitte der 2010er-Jahre beschloss der Innenarchitekt Jonathan Amar, seine eigene Möbelgalerie zu eröffnen. Für diesen Auftrag beschaffte er nicht nur französische Wandpaneele aus dem 17. Jahrhundert, die ursprünglich für das Château de Bercy angefertigt worden waren (dessen Architekt, François Le Vau, die Ostfassade des Louvre konzipierte), sondern auch eine Vielzahl von Objekten aus der Mitte des Jahrhunderts: Leuchten von Max Ingrand und Serge Mouille, Sofas von Finn Juhl und eine Sitzgruppe von Gio Ponti. „Ich war hocherfreut“, erzählt er. „Jedes Stück hätte es verdient, im Museum zu stehen.”
Amars Leidenschaft für Vintage-Objekte des 20. Jahrhunderts reicht mehrere Jahrzehnte zurück. In den 1980er-Jahren begann er, italienische Möbel zu sammeln, und setzte bei der Gestaltung seiner ersten Restaurant- und Caféprojekte auf Vallauris-Keramik der Nachkriegszeit. Die Eröffnung der Spirit Gallery im Oktober 2017 im marokkanischen Rabat betrachtete er daher als eine „natürliche Entwicklung”.
Die Galerie befindet sich im Erdgeschoss eines dreistöckigen Gebäudes aus den 1980er-Jahren in einem Industriegebiet, in dem auch eine Druckerei, eine Teppichfabrik und eine Autowerkstatt zu finden sind. Darüber liegt das hauseigene Restaurierungsatelier und im Dachgeschoss das Designbüro von Amar sowie ein Fotostudio.
Die Galerie ist auf italienisches Design aus den 1950er- bis 1970er-Jahren spezialisiert und führt regelmäßig Leuchten von Stilnovo, Stillux und anderen Herstellern sowie Möbel von Paolo Buffa, Ico Parisi und Ponti. Man findet auch das eine oder andere Objekt im Skandinavischen Design. Amar ist besonders begeistert von Finn Juhl, vor allem wegen „der Sinnlichkeit seiner Formen”, wie er selbst sagt. „Ich war schon immer von Schnörkeln und Kurven fasziniert.“
Neben den Vintage-Fundstücken präsentiert Amar auch seine eigene zeitgenössische Möbel- und Leuchtenkollektion Jonathan Amar Studio, die größtenteils auf Messing setzt, das mit anderen Materialien (z. B. Korbweide, Rattan oder Leder) kombiniert und in Zusammenarbeit mit lokalen Kunsthandwerker*innen gefertigt wird.
Amar wurde in Rabat geboren, wo er seine frühe Kindheit bei einem Onkel und einer Tante verbrachte. Die Familie mit jüdischen Wurzeln wanderte bei Ausbruch des Sechstagekriegs 1967 nach Frankreich aus, als Amar 13 Jahre alt war.
Zunächst schlug er eine Karriere als Presse- und Modefotograf ein. Die ersten von ihm gestalteten Interieurs waren dabei Sets für seine eigenen Modeshootings. Anfang der 1980er-Jahre entschied er sich für eine Laufbahn als Innenarchitekt, nachdem ein Freund ihn gebeten hatte, die Räumlichkeiten mehrerer griechischer Restaurants in Paris umzugestalten.
Seitdem hat er mehr als 100 Hotels, Restaurants und Clubs eingerichtet, darunter einige der bekanntesten Namen des Pariser Nachtlebens – Les Bains Douches, Le Palace und Castel, um nur einige zu nennen. „Er hat die Gabe, einfach jeden Raum in Szene setzen zu können“, schwärmt der französische Innenarchitekt Raphaël Le Berre, der in den ersten Jahren seiner Karriere bei Amar lernte. „Er nimmt einen regelrecht auf eine Reise mit.“
Mittlerweile verbringt Amar viel Zeit mit Reisen durch Marokko – immer auf der Suche nach Kunsthandwerker*innen, deren Fähigkeiten er in seine eigenen Designs einfließen lassen kann. „Normalerweise fertigen sie Objekte an, die besonders üppig verziert sind“, berichtet er. „Mit meinem Ansatz möchte ich eine moderne Note einbringen – mit klareren Linien und einem vereinfachten Stil.“
Introspective sprach mit Amar über seine Bewunderung für Gio Ponti, Vintage-Objekte in Marokko und die besten Handwerkskünstler*innen des Landes.
Wer zählt zu Ihrer Kundschaft?
In Rabat gibt es definitiv keine große Nachfrage, das steht fest. Wir erhalten jedoch Anfragen von Interessent*innen aus Casablanca und Marrakesch, wo es mehr Häuser in ausländischem Besitz gibt. Achtzig Prozent unserer Nachfrage stammt jedoch aus dem Ausland – der größte Teil davon aus den USA. Wir arbeiten dort mit Innenarchitekt*innen wie Kelly Wearstler, Peter Marino, Pamela Shamshiri und Robert Stilin zusammen.
Warum konzentriert sich die Galerie so sehr auf italienisches Design aus der Mitte des Jahrhunderts?
Ich glaube, niemand verbindet Sinnlichkeit und Komfort so gekonnt miteinander wie die Italiener*innen. Gio Ponti ist ein Paradebeispiel dafür. Er verstand es, extrem komfortable Möbel zu entwerfen, die gleichzeitig aber auch unglaublich ästhetisch waren. Diese Eigenschaften findet man nicht bei französischen Objekten, die eher streng wirken.
Außerdem ist ein Großteil des französischen Designs aus der Mitte des Jahrhunderts sehr teuer geworden, während man in Italien noch immer Objekte zu guten Preisen finden kann. Ich arbeite mit Leuten außerhalb Mailands oder Roms zusammen, die solche Objekte für mich aufspüren. Sie sind in eher abgelegenen Gegenden unterwegs, wo es noch möglich ist, erschwingliche Möbelstücke ausfindig zu machen.
Findet man in Marokko interessantes Vintage-Design?
Das Angebot ist nicht allzu groß, aber ab und zu findet sich doch ein besonderes Objekt. [Der ungarisch-französische Designer der Mitte des Jahrhunderts] Mathieu Matégot hatte eine Werkstatt in Casablanca, und ich habe einmal einen seiner seltenen Nagasaki-Stühle in einem Antiquitätengeschäft in Marrakesch gefunden.
In den 1930er-Jahren waren viele französische Designer*innen auch in Marokko aktiv. In Rabat und Casablanca gibt es ganze Stadtteile, die von französischen Architekt*innen mit Villen, Stadtpalais und Banken neu gestaltet wurden. Während eines Projekts für eine*n Berater*in des Königs stieß ich auf eine Reihe von Stühlen aus massivem Eichenholz und Leder ganz im Stil von Jean-Michel Frank, die ursprünglich zur Banque Al-Maghrib gehörten.
Wo findet man in Marokko die besten Kunsthandwerker*innen?
Üblicherweise in Fès. Sie sind als Maalems bekannt, was übersetzt „die Wissenden“ bedeutet. Hier findet man die besten Zellige-Fliesen und Messingwaren sowie außergewöhnlich geschickte Goldschmied*innen.
Rabat ist bekannt für seine Stuckarbeiten an den Decken und Tanger für die Webkunst – sowohl für Stoffe als auch Teppiche. Dort gibt es auch interessante Holzarbeiten, die von syrischen Handwerkstechniken inspiriert und mit Intarsien aus Knochen und Silberfäden versehen sind.
Früher war Marrakesch eher ländlich geprägt, und das Kunsthandwerk beschränkte sich dort vor allem auf Leder und Korbwaren. Doch seit die Stadt in den letzten Jahrzehnten bei den Europäer*innen beliebt geworden ist, haben sich zahlreiche Kunsthandwerker*innen aus Fès dort niedergelassen.
Auf welche Weise integrieren Sie traditionelle marokkanische Techniken in Ihre hauseigene zeitgenössische Möbelkollektion?
Ich kombiniere gerne verschiedene Techniken miteinander. Wir verkleiden zum Beispiel viele unserer Messinglampen mit Leder und arbeiten mit Handwerker*innen zusammen, die Sättel herstellen. Sie nähen alles von Hand mit einem Messingfaden, der mit Wachs behandelt ist, um ihn widerstandsfähiger zu machen.
Das Besondere hier ist, dass wir in jeder Phase viele verschiedene Prototypen anfertigen können, da die Kosten viel niedriger sind als in Europa oder den USA. Auf diese Weise können wir jedes Design noch besser abstimmen und so feststellen, was die einzelnen Kunsthandwerker*innen zu leisten imstande sind.
Welche besonderen Objekte haben Sie in Zusammenarbeit mit Handwerksleuten geschaffen?
Es gibt ein Teekannen-Set aus vernickeltem Messing, mit dessen Fertigung wir vor etwa drei Jahren begonnen haben. An jedem von ihnen arbeiten sieben verschiedene Kunsthandwerker*innen. Alle haben ganz bestimmte Fachkenntnisse. Eine*r ist für die Prägung zuständig, eine*r für die Gravur, eine*r für den Ausguss und so weiter. Ich habe außerdem noch Goldschmied*innen in Fès damit beauftragt, die Lampenschirme aus perforiertem Metall zu fertigen. Sie erzeugen jedes Loch mit einer vertikalen Säge, die einem Gewinde ähnelt. Für ein Metallstück von 20 Quadratzentimetern benötigen sie dabei einen ganzen Tag. Die Präzision ist identisch mit der eines Laserschneiders. Das ist wirklich etwas ganz Besonderes!